Deutschland. Ein Wintermärchen

 Wer Stund um Stund einem mäandernden Fluss entlang geht, entwickelt sogar als Grüne eine gewisse Sympathie für Flussbegradigungen. Nein, ich will mich nicht beklagen, schon gar nicht nach dem gestrigen Tag. Nach all dem Autolärm war es heute zwischen Kempten und Krugzell entlang der Iller genau so, wie es sein sollte beim Pilgern zu sich selber: Das Rauschen des Flusses, das Schneeknirschen unter den Füssen, das Tippeln der Hundepfoten hinter mir, das Ticken der Stöcke. Sonst nichts. Sogar die Vögel schienen eingefroren zu sein, obwohl es heute weder eisige Bise noch ständig von vorne kommende Schneegraupel gab. Davon, und vom Wandern neben lauten Autostrassen, hatte ich gestern genug. Das Allgäu zeigte sich von seiner harten Seite, doch von Maierhöfen bis Wengen, 10 Kilometer vor Buchenberg Markt, hielten wir tapfer durch. Dann wurden wir gestoppt durch die Tatsache, dass wir durchs Wengener Tobel direkt auf der Fahrbahn der Regionalverkehrsstrasse zu gehen hätten. Im Dorfladen warnte man mich davor, weil neben den schlechten Witterungsbedingungen der ganze Verkehr von der geschlossenen Autobahn auch durchs Tobel müsse. Weitergehen, "stöpple" oder zweieinhalb Stunden im Café im Dorfladen auf den Bus warten? Ich entschied mich für letzteres; wollte wissen, wie es ist, einfach zu warten. Ich begann zu rechnen, beziehungsweise erstellte eine Hypothese, wie das Ergebnis zu sein hätte und suchte die Methode im Kopf, die sie verifiziert: 10 Kilometer, die ich per Bus fahre, auf 1'500 zu gehende Kilometer. Wären wir sie aber gegangen, es wären 10 Kilometer gewesen, auf denen ich mich, die Lastwagen und die 0.66666666666 Prozent verflucht hätte.

Doch: Wir fuhren per Bus nicht bis Kempten durch, stiegen brav in Buchenberg aus und froren bis Kempten zu Fuss weiter.

Morgen geht es weiter von Bad Grönenbach bis Memmingen. Dann gibt es eine Pause. Die Beine werden es mir danken. Der Hund sowieso.

Übrigens: Wer zweieinhalb Stunden wartend in einem kühlen Dorfladen-Café sitzt hat Zeit für etwas Passendes:
Deutschland. Ein Wintermärchen, Heinrich Heine
Es beginnt so: 

Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.