Sehen, wer oder was übermorgen kommt

Wir waren begeistert, meine Kollegin Esther und ich, als wir zum Fenster hinausschauten. "Sieh mal, diese Weite, der Fluss, das Boot!" - Mirjam, eine der freiwilligen Helferinnen im Mehrgenerationenhaus Dörverden lachte: "Schweizerinnen, die so ausflippen, haben wir noch nie gehabt bei uns. Bei euch stehen Berge; wir sehen dafür, wer übermorgen kommt." Wer übermorgen kommt? Ganz schön mehrdeutig dieser Satz, vor allem wenn man das Motto der Mehrgenerationenhäuser in Deutschland kennt: "Wir leben Zukunft vor."
Uns hat die Schiefertafel "Café offen" vor dem imposanten Klinkerbau an der Aller ins Innere gelockt; 20 Kilometer lagen hinter, 15 noch vor uns. Hunger, Durst, müde Beine - das war's, was Esther, die drei Tage meine Wanderbegleiterin war, und mich beschäftigte. Mehrgenerationenhaus; das nahmen wir in Kauf, wie wir auch ein Kirchencafé oder eine Döner-Bude nicht links liegen gelassen hätten.
Der Blick aus dem Fenster, die Gemütlichkeit der Kaffeestube, Mirjams "4 Euro die Gyros-Suppe, bis satt", das Lachen der Frauen, ihre Freude darüber, dass die Niederlande dem türkischen Aussenminister mutig die Landeerlaubnis verweigerten; der ältere Mann, der etwas verwirrt wirkte und motzte, die Suppe sei ja gar nicht heiss - wo waren wir gelandet? Ich bat zwei Frauen an unseren Tisch. "Was ist das, ein Mehrgenerationenhaus", wollte ich wissen. Sie zückten das Programmheft und zählten auf, was sie alles anbieten: Erzähl-Café, inklusive Bügelservice für überlastete Familien oder ältere Menschen. Handysprechstunde, Formularlotsen, die beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen helfen, Mal-, Näh- oder Sprachateliers, "Rent a Granny"-Angebote, aber auch niederschwellige Pflegeberatung, Aufgabenhilfe für Flüchtlingskinder sowie ein Café der Kulturen oder die Volksküche, bei der an jedem Mittwoch ein bio-vegetarisches Mittagessen mit Produkten aus der Region gratis angeboten wird, meist setzen sich fünfzig Leute an den Tisch, - wir waren baff und stellten die typisch schweizerische Frage: "Wer finanziert das alles?"
Der Bund, das Land, aber auch die Kommunen zahlen an die rund 50 Mehrgenerationenhäuser in Niedersachsen. 450 Mehrgenerationenhäuser gibt es in ganz Deutschland; sie sind offene Tagestreffpunkte, in denen sich Menschen aller Generationen begegnen und gegenseitig unterstützen. Das Miteinander ist dabei geprägt von freiwilligem Engagement und der Hilfe zur Selbsthilfe. Für die Kommune ist das Mehrgenerationenhaus ein starker verlässlicher Partner, der für die Menschen da ist, wo Bürokratie nicht helfen kann, aber der Mensch im Mittelpunkt steht.
Wir Wanderinnen staunten: Hatten wir beim Gehen doch gerade laut darüber nachgedacht, was man tun könnte, damit der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht nur auf klug beschriebenem Papier, sondern in der Realität stattfindet. Und schon sassen wir mittendrin: Sehen, was übermorgen kommt und heute darauf reagieren.
Wandern öffnet einem Fenster mit Weitsicht.